In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 begann auch in Ibbenbüren der reichsweit organisierte Terror gegen Juden. SS-Männer, unterstützt von SA und HJ, plünderten und demolierten Geschäfte jüdischer Besitzer und zündeten die Synagoge an. Jugendliche und Erwachsene schauten stillschweigend zu.
Am 9. November 1938 versammelten sich abends im "Lindenhof" am Christus-Kirchplatz NSDAP-, SA- und SS-Männer anlässlich des Jahrestages des gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsches von 1923. Nach einem Treffen von NS-Kreisleiter Knolle, Landrat Dr. Meyer-Nieberg, Bürgermeister Dr. Müller, Amtsinspektor Schöttler und SS-Untersturmführer Scheidt (gen. Teddy) in den frühen Morgenstunden des 10. November in der Polizeiwache - der Landrat bestimmte, dass sich die Polizei in die "durch die Partei in Durchführung befindlichen Maßnahmen" nicht einschalten dürfe - begannen SS-Männer, unterstützt von SA und Hitlerjugend, den Terror. Einige Gebäude jüdischer Besitzer wurden geplündert bzw. demoliert. Dabei erlitt das Haus von Louis Löwenstein die schwersten Schäden. Der Mob hatte Steine aus dem Pflaster gerissen und damit die Fensterscheiben eingeworfen. Die Löwensteins wurden in Schlafanzügen und Nachthemden auf die Straße getrieben, ihre Möbel und andere Habseligkeiten zertrümmert. Die 70-jährige Rika Rosenthal, die neben der Synagoge wohnte, wurde misshandelt, Ernst Rosenthal und "Fräulein Löwenstein" erpresst und beraubt. Bürgermeister Dr. Müller, der laut Zeitzeugenaussage wegen "judenfreundlichen Verhaltens" später aus der Partei ausgeschlossen wurde, ließ die Täter festnehmen. Die Staatsanwaltschaft verfügte jedoch kurz darauf ihre Entlassung. Zeitzeugen beobachteten am Morgen des 10. November ein Feuerwehrauto, das vergeblich mit einer Stahltrosse versuchte, die Fassade der Synagoge einzureißen. Lehrer sollen Schülern der Rektoratsschule den "brennenden Judentempel" vorgeführt haben. Ebenfalls Schüler dieser Schule rissen nach Erinnerung eines Zeitzeugen Thorarollen auseinander. Ein anderer Zeitzeuge erinnert sich an eine Menschenmenge von ca. 50 Personen, die stillschweigend vor dem schwelenden Gebäude gestanden hat.
Bei dem Viehhändler Erich Rosenthal, Adolf-Hitler-Str. 69 (heute Große Straße), waren "Sachwerte sichergestellt" worden. Da er geflüchtet war, wurden diese für ca. 1800RM verkauft. Seine Ehefrau bat einige Wochen später um Aushändigung des Betrages, da sie emigrieren wollte. Auch die Spar- und Kontobücher der Witwe von Heinrich Rosenthal, Adolf-Hitler-Str. 69, im Wert von ca. 3000 RM gelangten in die Hände der Stadtverwaltung.
Bürgermeister Dr. Müller schlug am 7. Dezember 1938 vor, davon laut "Verordnung zur Wiederherstellung des Straßenbildes bei jüdischen Gewerbetreibenden" die Vermögensabgabe für das Finanzamt nach Abzug der Instandhaltungskosten sicherzustellen. Wie an anderen Orten, kam es auch in Ibbenbüren am 10. November 1938 zu kurzzeitigen Verhaftungen, so von Julius Ackermann. Karl Rosenthal, dem man in der Pogromnacht schwere Kopfverletzungen und einen Armbruch zugefügt hatte, sollte vier Tage später in das Konzentrationslager Sachsenhausen eingewiesen werden; der Transport kam aber wegen offensichtlicher Überfüllung des Konzentrationslagers nicht zustande.
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In der Pogromnacht wurde die Synagoge im Innern demoliert. Der Brandmeister Gebigke berichtete, die Freiwillige Feuerwehr Ibbenbüren habe am 10. November 1938 um 10.30 Uhr das gesamte Ihnere der Synagoge brennend vorgefunden. Auf Anordnung des Amtsbürgermeisters sollten nur die benachbarten Wohnhäuser - u. a. das des Meyer Rosenthal- geschützt werden. Von 18 Uhr bis um 8 Uhr am 11. November stellte die Feuerwehr eine Brandwache. Einsturzgefahr bestand nicht. Die Stadtverwaltung beauftragte im Dezember 1938 die Baufirma Rieke mit der Reparatur des Daches sowie dem Verschalen der Maueröffnungen. Um das Grundstück entbrannte ein heftiger Streit. Ein Ibbenbürener Hotelbesitzer bat die Kreisleitung der Partei, ihn als Käufer vorzumerken, da er bereits Kaufverhandlungen mit der jüdischen Gemeinde geführt habe. Außerdem bewarb sich ein Gastwirt. Da der Bürgermeister das Grundstück als Erweiterungsmöglichkeit für die umliegenden Schulen für die Stadt reklamierte, hatten die Bestrebungen der beiden anderen Interessenten keinen Erfolg. Am 22. Juni 1939 erwarb die Stadt das Synagogengrundstück. Der Kriegsausbruch verhinderte die Verwirklichung der Bebauungspläne. Nachdem die Ruinen 1940 abgetragen worden waren, nutzten Bewohner des Nachbarhauses bis in die Nachkriegszeit hinein das gegen einen geringen Obolus gepachtete Grundstück als Garten. Die JTC meldete 1950 Ansprüche an und erhielt das Grundstück 1952 von der Stadt zurück. Ende desselben Jahres kaufte es eine Privatperson, die Garagen errichten ließ, welche 1993 abgerissen wurden. Heute befindet sich dort das Altenwohnhaus der Caritas.
(Aus: Schlautmann-Overmeyer, Klatt: "Ibbenbüren" in: „Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Münster.“ Veröffentlichung der Historischen Kommission für Westfalen. Münster 2008, 419, 420, 423)
Die Benutzung der Synagoge bleibt auf etwas mehr als zwei Jahrzehnte beschränkt. Am 9./10. November geht das Gebäude durch Brandstiftung in Flammen auf, als scheinbare Vergeltung für die Ermordung des deutschen Legationsrates in Paris. Darüber informiert ein Zeitungsartikel in der IVZ aus dem Jahre 1962 von dem ehemaligen Leiter der Rektoratsschule A. Ströhmer. Anlaß der Niederschrift zu diesem Zeitpunkt war der vorgesehene Abriß des Judenhauses in der Schulstraße 2, heute Synagogenstraße, rechts neben der Synagoge. In diesem Dokument geht der Verfasser auf die sog. "Reichskristallnacht" in Ibbenbüren ein: Dort ist zu lesen:
"Vom 9. bis 10. November 1938 war die Kristallnacht, in der fast alle Synagogen in Deutschland verbrannt wurden. Auch in Ibbenbüren wurde gründliche Arbeit gemacht. Es war aber schon heller Tag, als die Flammen hoch zum Himmel schlugen. Wer den Brand angezündet hat, weiß man nicht: War es Teddy ("Scheid", Anm. des Verf.), wie der ungeschlachte und allmächtige Führer der SS mit seinem Spitznamen genannt wurde? Die Feuerwehr war nur zum Abschirmen da. Eine Reihe von Gegenständen ist vor dem Brand herausgeholt worden, verbrannt ist das Gestühl, wahrscheinlich auch die Heilige Lade, der Schrein mit den wertvollen pergamentenen Thorarollen. (Anm. Den Artikel unterbricht an dieser Stelle der Reklametext: Klipps Kaffee / der Gute) Der Synagogenbrand ist ein Schandfleck für Ibbenbüren, nicht nur für die Übeltäter, sondern auch für uns andere, die wir nicht wagten, offen zu protestieren."
Wer diesen kritischen Beitrag heute liest, freut sich nicht nur über den dokumentarischen Wert. Der Artikel macht deutlich, dass auch damals die Überzeugung von Unrecht vorhanden war, ein religiöses Heiligtum niederzubrennen. Aber bedauerlicher Weise drangen die Gefühle von Empörung kaum nach außen.
Der Anblick des Artikels von 1962 deckt bei genauerem Hinsehen aber auch etwas von der Art auf, wie man mit Berichten über das kriminelle Geschehen in der NS-Zeit umgehen konnte. War es nur Gedankenlosigkeit oder war es Zynismus? Genau in die Zeilen, die von dem Synagogenbrand berichten, hat der Redakteur oder Setzer der IVZ damals eine bezeichnende Reklame plaziert, mit der für einen "Röstkaffe" geworben wird.
Der Brandmeister der Ibbenbürener Feuerwehr berichtet am folgenden Tag dem Amtsbürgermeister (Anm.: Dr. Müller) die Maßnahmen beim Synagogenbrand. Dabei wird deutlich, dass die Wehr Anweisung hatte, "die in Brand stehende Synagoge an der Schulstraße ausbrennen zu lassen und die benachbarten Wohnhäuser in Feuerschutz zu nehmen. Beim Eintreffen an der Brandstelle um 10.30 Uhr wurde das gesamte Innere der Synagoge brennend vorgefunden, der Putz fiel von den Wänden. Die vorhandene Rabitzdecke schützte das Dach. An 2 Stellen wurden die Seitenstiele des Dachstuhles vom Feuer ergriffen, das jedoch im Dachstuhl nur schmorte. Um 18 Uhr wurde die Stellung einer Brandwache angeordnet, die bis 8.30 Uhr des folgenden Tages stehen sollte. Das ist geschehen". Abschließend urteilt der Brandmeister: "Eine Einsturzgefahr besteht nicht. Mit dem Herabfallen kleinerer Teile aus der Rabitzdecke ist jedoch zu rechnen. Die Brandstelle ist deshalb abgesperrt. Bei der Untersuchung der Stadtfestigkeit der vorderen Giebelwand wurden die 5 mittleren Fenstereisen entfernt."
Anfang Dezember wurden laut Rechnung des Maurermeisters Georg Rieke verschiedene Arbeiten durchgeführt. Neben Aufräumarbeiten und Abfuhr von Schutt erfolgten erstaunlicher Weise auch Reparaturen am Gebäude.
Abschließen möchte ich mit einem persönlichen Erlebnis. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren mit Schülerinnen und Schülern des Goethe-Gymnasiums begann, etwas über die Ibbenbürener Juden nachzuforschen, mahnte mich ein "guter" Freund: Mensch, Franz, lass doch die Finger davon! Mein Vater hat selbst einem Juden eins in die Fresse gehauen.!"
(aus: Die Synagoge in Ibbenbüren - Erinnerung an den Novemberpogrom 1938. Von Franz Jarminowski)
Rezension des Buches:
Lars Boesenberg, Jürgen Düttmann, Norbert Ortgies
Machtsicherung. Ausgrenzung. Verfolgung.
Nationalsozialismus und Judenverfolgung in Ibbenbüren
Historischer Verein Ibbenbüren e. V.
Ibbenbüren 2010 (=Ibbenbürener Studien, Bd.6)
bei der "Internationalen Schule für Holocaust-Studien" (ISHS in Yad Vashem):
https://www.yadvashem.org/de/education/newsletter/2/ibbenbueren.html
Wohnorte jüdischer Familien in Ibbenbüren (von Werner Suer): http://www.stadtmuseum-ibbenbueren.de/stadtgeschichte_aufsaetze20.htm
Stolpersteine - Aktion gegen das Vergessen der Gräueltaten im Nationalsozialismus.
http://www.stadtmuseum-ibbenbueren.de/stadtgeschichte_stolpersteine.htm